Bereits Aristoteles beschrieb die fünf Sinne, mit denen wir Menschen unsere Umwelt wahrnehmen: sehen, hören, riechen, schmecken und tasten. Vor allem unser Sehsinn trägt einen Großteil dazu bei, dass wir Situationen erkennen und die verschiedensten Eindrücke gewinnen. Doch was passiert, wenn der Sehsinn – und damit ca. 80 % unserer Wahrnehmung – vorübergehend ausgeschaltet wird? Dieser Frage ging ich einem belebenden Selbstversuch auf den Grund.
Es ist Sonntagabend. Ich sehe mich um. Noch kann ich das. Noch ist es einigermaßen hell. Mit knapp 40 Menschen stehe ich in einem in Kerzenschein getauchtes Kellergewölbe. Nun geht es in kleinen Gruppen in den angrenzenden Raum. Ein schwarzer Vorhang öffnet sich. Ich trete in einen stockfinsteren Raum und eine sanfte Stimme empfängt mich. Diese Stimme gehört Astrid Weidner. Gemeinsam mit Christiane Majer (www.majer-weingut.de) führt sie durch den Abend. Astrid Weidner ist Diplom-Wirtschaftsingenieurin, Trainerin und systemische Coach. Und sie ist von Geburt an blind. Ich greife dankbar nach dem mir angebotenen Arm und lasse mich zu meinem Platz führen. Aha, der erste Impuls für mich als Trainerin stellt sich auch direkt ein. Trainer-Erkenntnis Nummer eins: Lass dich führen.
An meinem Platz angekommen, halte ich mich erstmal am Stuhl fest und versuche, mich zu orientieren. Wie groß ist wohl der Raum, in dem ich jetzt bin? Wie sind die Tische angeordnet? Wo genau steht der Tisch, an dem ich sitze? Wie viele Leute sitzen an meinem Tisch? Puh, eine Menge Fragen schwirren in meinem Kopf herum, die bestimmt im Laufe des Abends beantwortet werden.
Also setze ich mich erst einmal und lausche. Es ist laut im Raum. Geschirr klappert, Stühle rücken, Gläser plingen. Und Stimmengewirr. Ich empfinde die Lautstärke als etwas unangenehm und hoffe, dass sich das noch legt. Der Herr zu meiner Rechten beschreibt alles, was er ertastet. „Die Messer fühlen sich neu an und haben ziemlich scharfe Zacken. Fühlt sich an, als wäre es noch nicht so oft gespült.“ Ich frage mich, wie man fühlt, ob Messer neu sind oder schon zigmal durch die Spülmaschine gelaufen sind. Hm… und schon machen sich meine Hände auf den Weg zu meinem Besteck. Ich kommentiere nur im Kopf, was ich da ertaste. Zwei Gabeln links, zwei Messer rechts, ein kleiner Löffel oben – das sagt mir: Es gibt mindestens drei Gänge. Gut, denke ich, ich hab´ nämlich einen Mordshunger.
Oh, in der Mitte steht auch schon eine Kleinigkeit. „Das ist der Gruß aus der Küche“, verkündet die Stimme aus dem Dunkeln. Woher sie kam, kann ich nicht lokalisieren, aber ich fange an zu essen. Und damit beginnt ein Ratespiel, was sich durch den ganzen Abend zieht: Was genau esse ich denn da? Ich sehe es ja nicht, also muss ich versuchen, es zu „erschmecken“. Klar ist, es ist in einem Glas serviert, und ich kann es trinken. Ok – Suppe – das war nicht schwer. Aber was für eine? Cremig ist sie, kartoffelig auch. Und dann sind da noch so kleine Stückchen drin. Möhren, sagt mein „Kommentator“ rechts. Möhren?, denke ich, nein, die schmecken anders. Die hier bizzeln ein bisschen, wenn ich draufbeiße und scharf sind sie auch. „Könnte Ingwer sein“, sage ich laut in die Runde (wobei ich mich frage: Ist der Tisch eigentlich rund oder eckig?) und ernte zustimmende Laute.
Dabei stellt sich auch schon die nächste Frage ein: Wie viele Leute sitzen eigentlich am Tisch. Ich frage wieder laut und es wird geschätzt, irgendwas zwischen 6 und 12. Ich will es genau wissen und gebe vor. „Lassen Sie uns doch mal durchzählen. Ich fange an und wir zählen rechtsherum. Eins.“ Mein rechter Tischnachbar zählt „zwei“ und so geht es reihrum, bis wir bei meinem linken Tischnachbarn angelangt sind. Aha, also neun Personen am Tisch. Dies führt zu Trainer-Erkenntnis Nummer zwei: Initiative ergreifen, klare Ansagen erteilen und MACHEN. Und die Frage runder oder eckiger Tisch hat sich auch durch wenige Griffe und den Austausch des Ertasteten geklärt. Links von mir eine Ecke und ein freier Platz. Der Herr zu meiner Linken berichtet ebenfalls von einer Ecke. In meinem Kopf entsteht ein Bild von einem länglichen, eckigen Tisch, an dem an den Längsseiten jeweils drei Personen, an einem Kopfende zwei sitzen und an dem anderen Ende eine Person. Ok, wieder etwas Licht ins Dunkel gebracht – wie treffend.
Weiter geht´s gleich mit der nächsten Herausforderung. Hinter mir (so dachte ich) die Stimme von Christiane Majer „Ich stehe links von Ihnen (aha, links, nicht hinter mir) und habe hier den Wein für unseren ersten Gang.“ Ich greife ins Dunkel und versuche zu orten, woher genau die Stimme kam und vor allem, wo die Flasche ist. Da sie (ausgestattet mit einem Nachtsichtgerät) sieht, wie ich fuchtelnd nach der Flasche suche, legt sie sie mir in die Hand. Oha! Und jetzt den Wein ins Glas gießen, ohne mich damit zu duschen. Erstmal ein Glas haben. Ich begebe mich also auf die Suche nach einem Glas. Es sollte oberhalb vom Messer stehen, also bahnen sich meine Hände den Weg über die Messer nach oben. Bingo! Sogar zwei Stück gefunden. Ein kleines und ein größeres. Ich nehme das größere, denn ich weiß, dass das das Weinglas ist. In meinem Trainer-Kopf macht es klick. Trainer-Erkenntnis Nummer drei: Bring deine Erfahrungen mit ein.
Die Weinflasche in der linken, das Weinglas in der rechten Hand. Meine rechte Hand ertastet den oberen Rand des Glases und ich halte instinktiv den Zeigefinger ins Glas, mit dem Gedanken „Falls ich zu viel einschenke, merke ich das am Finger. Sozusagen mein Pegelstand.“ Und schon wieder ein Klick. Trainer-Erkenntnis Nummer vier: Unbekanntes Umfeld fördert kreative Lösungsprozesse. Meine Mitstreiter wollen natürlich auch vom Wein probieren, aber einfach mal hinstellen funktioniert ja im Dunkeln nicht. Also reden wir miteinander. Ich wende mich dem Herrn zu meiner Rechten zu. Ich frage „Wollen Sie auch Wein?“, er antwortet „Ja, sehr gerne.“ Seine Stimme ist tief, klingt nicht alt, vielleicht Anfang oder Mitte 30 schätze ich. „Dann gebe ich sie Ihnen jetzt.“ Ich reiche die Flasche in seine Richtung. Unsere Hände berühren sich. Er hat weiche Hände. Sie fühlen sich jung an und ganz glatt. Ich frage „Haben Sie sie?“. „Ja, ich hab´ sie.“ Ich lasse los. Es klirrt nicht. Er hat die Flasche sicher in seinen Händen. Trainer-Erkenntnis Nummer fünf: Direkte und klare Kommunikation führt zum gewünschten Ergebnis. Dieses Vorgehen wiederholt sich an diesem Abend noch mehrmals und wir werden von Mal zu Mal besser und sicherer. Kaum eine halbe Stunde zusammen im Dunkeln und schon sind wir ein eingespieltes Team, denke ich.
In der kommenden Woche geht es im zweiten Teil um Augen zu oder Augen auf, Fragen, die wir uns sonst nicht zu fragen trauen und ein fulminantes Dessert.
Zum zweiten Teil: hier klicken
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Sie wollen das selbst erleben? Hier finden Sie weitere Termine für „Dinner in the Dark“ http://www.majer-weingut.de/pages/07_events_00.html
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